Das Engelorchester-Massaker

Ein Schwall aus Spänen und Splittern purzelte die Stufen hinab! Überall lagen Arme, Beine, Musikinstrumente, Zöpfe und Flügel herum. Nur ganz leise hallte der Knall des Absturzes noch nach. Dann absolute Stille. Ich saß mittendrin – begann zu heulen, jammern und greinen – in diesem Berg aus Elend, Leid und Zerstörung. Um mich herum die abgerissenen Gliedmaßen, von denen sich einige noch an Flöten, Geigen und Taktstöcke klammerten. Ich war für all das verantwortlich. Ich hatte ein ganzes Orchester auf dem Höhepunkt seiner Schaffensperiode auf dem Gewissen: Das Engelorchester meiner Mutter.

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Der Chef am Dirigentenpult versucht gar nicht erst, Wunden und Narben zu verdecken.

Auch jetzt, fast 30 Jahre nach dem Unglück, sind manche Spuren noch nicht vernarbt. So gibt es im inzwischen gut 80 Mitglieder zählenden Holzorchester, das jedes Jahr in der Adventszeit eine vielbewunderte Tournee in der Schrankwand meiner Eltern vollführt, einen Harfenspieler, der anscheinend nur mühsam den Arm heben kann, um Saiten zu zupfen. Auch ein Engel, der als Attraktion auf einer Sternschnuppe reitet, die vom Regalboden über dem Konzertsaal herunterhängt, klammert sich immer noch recht verkrampft wie mir scheint an sein leuchtend gelbes Gefährt. Und wer genau hinsieht, erkennt Klebestellen und Pattex-Reste an Flügeln, Ellenbogen und Violinen. Die Tatsache, dass es dieses Orchester noch gibt, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass auch schon vor 30 Jahren die chirurgische Kunst des Engelflickens weit fortgeschritten war.

Was war passiert? Jedes Jahr zu Beginn der Adventszeit baut meine Mutter ihre Sammlung an Holzengeln auf. Alle Musiker eint, dass sie Teil eines großen Orchesters sind, dass sie elf weiße Punkte auf ihren grünen Flügeln haben, ein weißes Hemdchen tragen und ansonsten nichts. Was mit ein paar Violinisten, Trommlern und Posaunisten begann, ist inzwischen ein Ensemble mit Orgel, Spieluhr, großem Bläsersatz und – wohl aufgrund mangelhafter Geschenkabsprachen in der Familie – zwei Dirigenten gleichzeitig.

Bemerkenswert ist außerdem die Vielseitigkeit des Orchesters, das elf Monate lang zurückgezogen in einem muffigen Karton im Abstellschrank ganz hinten für die nächste Konzertreise probt. Diese Vielseitigkeit drückt sich im Repertoire aus: Während der Dirigent vom Dienst vorn nach der Partitur von “Ihr Kinderlein kommet” aufspielen lässt, hat der Organist ganz hinten “O du fröhliche” aufgeschlagen. Dass es sich bei den Musikern um Profis handelt, erkennt man daran, dass trotz unterschiedlicher Partituren nie Misstöne zu hören sind.

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Der Zopf dieses Harfenspielers ist für immer verschwunden - und das ist meine Schuld. Von der abgeblätterten Farbe am Flügel will ich gar nicht reden. Fotos: Christian Kohlhof

Man muss wissen, dass Profimusiker, egal aus welchem Material und von welcher Größe, schon immer ihren Preis hatten. Dementsprechend behutsam werden sie seit Jahr und Tag in der Familie behandelt. Eingewickelt in weiches Papier verbringen sie die Probenzeit in besagtem Karton und werden zum Ersten Advent behutsam ans Licht geholt und auf den Schrankwandbrettern, die die Welt bedeuten, nicht einfach bloß aufgestellt, nein, nein! Sie werden arrangiert. Eine höchst elterliche Aufgabe mit Mutter als Orchestermanagerin und Vater als Mäzen (ihm oblag es schließlich, den ganzen Spaß über Jahre zu finanzieren).

Als Vertreter der nachwachsenden Generation forderte ich vor 30 Jahren, als ich selbst wohl so etwa vier Jahre alt war, ein Mitwirkungsrecht. Ich wollte mich einbringen und meinen Teil zum Gelingen der Adventszeit beitragen. Man gestattete mir deshalb, das Orchester zum Auftritt zu bringen. Was folgte, war eine Verkettung unglücklicher Umstände.

Vierjährige trugen zu jener Zeit (nach Auffassung ihrer Mütter) gern wollene Strumpfhosen, was der Jahreszeit zweifellos angemessen war und das Herumtollen im Hause erleichterte. Dazu hatte man mir wie so oft ein paar leichte Hausschuhe empfohlen. Fremde Kinder sehen, derart zurechtgemacht, auf Fotos immer niedlich aus. In meinem Fall bin ich aber froh, dass es von meinem Aufzug keine Bilder gibt.

Ich ging also meinem Job nach und nahm auf dem Dachboden den Eneglorchesterkarton in Empfang. Ich packte ihn fest mit meinen kleinen Händen, um dann engelsgleich herabzusteigen – und zwar die paar Holzstufen, um eine Etage tiefer die Box behutsam abzustellen. Kinderleicht. Aber ich kam nie an.

Was genau dazu führte, dass ich schon nach drei Stufen den Halt verlor, weiß ich nicht. Jedenfalls rutsche ich mit meinem Fuß über das Ende einer Stufe hinaus, setzte mit dem anderen Bein vergeblich nach, wankte nach hinten und geriet auf diese Weise in eine kaum engelhafte, dafür aber ungelenke Schieflage.

Die Schwerkraft forderte ihren Tribut. Ich plumpste auf den in reinste Wolle verpackten Allerwertesten. Weil es sich aber eben gerade um feine Wolle handete, gab es auf den frisch gebohnerten Holzstufen kein Halten mehr. Schon beim Sturz war zudem der Karton aufgeklappt – und während ich nun wuppend Stufe für Stufe tiefer sackte, schleuderten um mich herum die Engel aus der Box. Mit jeder Stufe ein paar mehr. Während die Holzbläser gerade im hohen Bogen aus dem Karton aufwirbelten, schlugen die ersten Violinisten schon splitternd und berstend um mich herum auf.  Wenig später katapultierte die Wucht des stufenweisen Absturzes auch den Engel mit der dicken Tuba trotz deren Gewichts ins Freie.

Was für eine schreckliche Szene! So oft bin ich in den vergangenen Jahrzehnten schon daran erinnert worden, so oft haben mich die grausamen Bilder aus dem Schlaf gerissen – mit jeder Erinnerung an die purzelnden Engel kommt mir das verheerende Missgeschick außerdem noch ein bisschen brutaler vor. So bin ich mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, was Fiktion ist – und was tatsächlich noch passiert ist. Haben einige Engel tatsächlich verzweifelt mit ihren Holzflügeln geflattert, um dem Unvermeidlichen doch noch zu entgehen? Haben andere vor Schreck aufgeschrien mit ihren glockenhellen Piepsstimmen oder war ich es selbst? Und haben einige Musiker tatsächlich wie sonst nur die legendäre Kapelle auf der Titanic bis zum bitteren Ende aufgespielt: “Vom Himmel hoch, da komm’ wir her?” Ich weiß es nicht.

Jedenfalls war Stille danach. Bis Mutter herbeieilte und mich inmitten des Massakers sitzen sah. Der Nachbar von unten-drunter kam mit einem Glas voll Lollis angelaufen, die gegen die schlimmsten Schocksymptome ganz gut halfen. Aber erst das therapeutische Einsammeln auch der allerkleinsten Holz- und Lacksplitter brachte dann die nötige Linderung.

Seitdem begegnen wir – also das Orchester und ich – uns mit distanzierter Höflichkeit. Angefasst habe ich Karton und Musiker nie wieder. Dazu ist das alles noch zu frisch. Und bestimmt haben die altgedienten Musiker der ersten Stunden ihren jüngeren Kollegen, die den Unfall nicht mit erlebt haben und deshalb aus einem Stück bestehen, schon von diesem Wahnsinnigen in Strumpfhosen erzählt, vor dem man sich bloß in Acht nehmen solle. “Ja gut, er hat sich verändert. Aber: Einmal Engel-Metzger, immer Engel-Metzger!” wird man sich in den Pausen wohl zuraunen. Und wenn wir Heiligabend vor dem Weihnachtsbaum singen, dann werden sie sagen :”Pah, hör dir den an. Das ist weder ‘Ihr Kinderlein kommet’ noch ‘O, du fröhliche’!!! Wird das überhaupt jemals ein Weihnachtslied? Aber was soll man von so einem auch schon erwarten.”

Ich kann, muss und werde mit dieser Bürde leben. Ich stelle mich der Verantwortung. Und nun scheint es, als näherten wir uns nach 30 Jahren doch wieder ein bisschen an. Als ich neulich ins Wohnzimmer kam, in dem die Engel ordentlich wie jedes Jahr im Halbrund stehen, da hatte ich das Gefühl, dass sie nicht wie sonst bei meinem Anblick panisch zusammenrücken und hinter der Orgel Schutz suchen, sondern dass sie einfach weiter “O kommet, ihr fröhlichen Kinderlein” gespielt haben.

Es scheint, als wolle mir das Orchester nun verziehen – nach all der Zeit. Was für ein schönes Weihnachtsgeschenk.

Autor: Christian

Der Verfasser aller Beiträge auf kohlhof.de

3 Gedanken zu „Das Engelorchester-Massaker“

  1. Jetzt spielen sie wieder, den Eltern sei Dank, vor 30 Jahren, da waren sie wirklich krank …
    Es tut mir leid, aber nach dem Lesen dieser Geschichte musste ich erst einmal ablachen, schon allein bei der Vorstellung mit der Strumpfhose und Hausschüchen, natürlich haben die vom Orchester das nicht gehört, soll sich ja keiner lustig machen, so ist das eben mit den gebohnerten Treppen, daran sind die Heinzelmännchen glaube ich auch schon gescheitert, ach nein, wie süß …

  2. warum kenne ich diese geschichte nicht???
    alles anderen hört man alljährlich in verschiedensten variationen immer und immer wieder… (tatsache- nicht bös gemeint)
    aber das??
    ach ja… was habe ich gebettelt, damit ich vielleicht mal einen da hinstellen darf, wo ich wollte- und ja, sie hat mich gelassen, und für die drei tage die ich da war klang das orchester dann etwas schief…
    und die partitur von dirigent und organist- das habe ich nie verstanden, warum das deine frau mutter duldet. wie wärs mit nem passenden orchester satz zu weihnachten?? laserdrucker sei dank…
    frohe weihnachten wünsche ich dir-
    man hört sich…

  3. Ach ja, es war mir schon lange ein Bedürfnis, mir das alles mal von der Seele zu schreiben. Jetzt ist also eine kleine Weihnachtsgeschichte daraus geworden.
    Da wir derade davon reden: In der kohlhof.de-Weihnachtskrippe ist nun auch Maria eingezogen.
    Schönen vierten Advent!

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