Veränderungen

Heute ist mein letzter Arbeitstag als Radioreporter im NDR-Ostseestudio in Rostock. Nach 11 Tagen Resturlaub werde ich ab 2. März für die Magazinredaktion von ndr1 Radio MV in Schwerin arbeiten.

Ich habe fast sechs Jahre lang im Studio in Rostock gearbeitet, hauptsächlich für ndr1 Radio MV, aber auch für andere NDR-Wellen und öffentlich-rechtliche Anstalten. Da kommt einiges an Themen zusammen. Hier eine kleine Auswahl an Beiträgen, die mir in Erinnerung geblieben sind, weil die Themen entweder besonders bewegend, beeindruckend, weitreichend, wichtig, erschütternd oder unterhaltend waren.

Mai 2003: Der erste Beitrag laut Honorarabrechnung lief am 28.5. in der regionalen Umschau gegen 18:35. Thema “Bau-Ing-Konferenz”. Ich weiß in diesem Fall aber beim besten Willen nicht mehr, worum es dabei ging.

August 2003: Der erste Beitrag, der im Regionalfenster Rostock um 17:35 lief:  Sozusagen meine Bewerbungsunterlage in akustischer Form: Die Stadtwerke Rostock lassen junge Graffiti-Künstler Trafohäuschen mit bunten Sprühbildern verzieren. Die Hoffnung geht auf, dass die bezahlten Bilder die wilden Schmierereien verhindern. Eine 2-Minuten-2-Sekunden-Reportage mit Dosenschütteln, Sprühdosenzischen, Sprayerin und beeindruckten Passanten.

November 2003: Der erste Reporter-Einsatz auf einem Ü-Wagen. Beim Landesparteitag der FDP in Güstrow war der altgediente Technik-Kollege sehr geduldig und hat mit lautem Klatschen sogar die Krähen hoch oben in den Baumwipfeln vertrieben, die durch lautes Krächzen erste Aufnahmen unsendbar gemacht hatten.

April 2004: Vom 16. bis 17. April kriecht ein Schwertransport im Konvoi vom Rostocker Überseehafen zu einer Brauerei nach Dargun. Für die Strecke von gut 70 Kilometern benötigen die drei Laster 37 Stunden. Die Kolonne muss an nahezu jedem Alleebaum an der Bundesstraße 110 stoppen, weil Zweige zu tief hängen. Irgendwelche Vorschriften hatten es verhindert, dass Arbeiter pauschal alle Äste vorher kürzen. Ich fahre zwischendurch sogar nach Haus, um zu schlafen. Als ich am nächsten Morgen wiederkomme, haben sich die Laster gerade mal 6 Kilometer vorwärts bewegt.

Juli 2004: Bei Rerik stürzt am 16. Juli ein Ultraleichtflugzeug ab. Der Pilot stirbt, das Wrack brennt aus.

August 2004: Ein Baukran stürzt am 21. August in Rostock um und reißt am Doberaner Platz zwei Arbeiter in die Tiefe, die das schief stehende Gestell sichern sollten. Einer der Männer stirbt.

Februar 2005: Am 27. Februar wählen die Rostocker den parteilosen Roland Methling zum neuen Oberbürgermeister. Der Sieg im ersten Wahlgang ist überraschend. In einem Lokal im Hafen singen die Anhänger des Siegers: “Unsern Roland Methling, den brauchen wir seeeehr. Wie die Schiffe den Hafen und die Fischeeee das Meer”. Was Rostock seitdem braucht, ist vor allem die nachhaltige Einsicht von Verwaltungschef einerseits und Bürgerschaft andererseits, dass Politik vor allem die Kunst des Kompromisses ist. Dieser Lernprozess dauert noch an…

Mai 2005: Die Bahn stellt einen neuen Service vor: In der Regionalbahn von Rostock nach Wismar erklärt ein Reiseführer per Lautsprecher die Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke. Ein super Radio-Thema. Allerdings: In dem fast voll besetzten Triebwagen auch O-Töne von Reisenden einzufangen, gestaltet sich unerwartet schwierig: Den größten Anteil an den Passagieren hat am 30. Mai eine Gruppe Taubstummer…

Juli 2005: Carolin aus Graal-Müritz wird vermisst. Ein Großaufgebot der Polizei sucht die 16-Jährige. Wenig später steht fest: Das Mädchen wurde brutal ermordet. Der Täter wird im Herbst zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

August 2005: Anfang des Monats verschwindet in der östlichen Altstadt die Katze einer Rostockerin. Tage später hört die Frau auf dem Dachboden ein Maunzen, das von außen zu kommen scheint. Die Feuerwehr schickt ihr Fahrzeug für Tierrettung. Die Feuerwehrleute decken einen Teil des Daches ab, seilen einen Kollegen in einen Spalt zwischen zwei Altbauten ab und fördern das ausgemergelte und erschöpfte Tier wieder ans Tageslicht.

September 2005: Eine Drachenbootmannschaft wagt einen Rekordversuch: Die 18 Männer und Frauen paddeln quer über die Ostsee von Gedser nach Rostock. Ich fahre auf dem Begleitboot mit. Das Guinnessbuch erkennt den Versuch aber nicht an. Die Gründe fallen mir nicht mehr ein.

Januar 2006: Im Tonnenhof am Rostocker Hafen liegt ein totes Finnwal-Weibchen. Das 17 Meter lange Tier war vor der Küste verendet. Greenpeace bietet an, die Bergung zu übernehmen und den Kadaver zum Meeresmuseum nach Stralsund zu bringen. Die Bergung im Schneegestöber früher Morgenstunden am 18. Januar ist spektakulär, unter anderem weil der tote Wal beim ersten Versuch zurück ins Wasser stürzt. Die Aktion ist aber auch ein gelungener Coup der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die den Wal zunächst nach Berlin vor die Botschaft Japans bringt, um gegen die Jagd auf die Meeressäuger zu protestieren. Greenpeace hat damit bewiesen, wie geschickt die Organisation Kampagnen inszenieren kann

Februar 2006: Meinen Urlaub breche ich ab. Ab dem 15. Februar stehe ich mit vielen NDR-Kollegen neben einem Ü-Wagen an der Wittower Fähre auf Rügen. Die Vogelgrippe hat zahlreiche Schwäne getötet. Sammel-Überspiele kurz und lang, Live-Einblendungen im 5-Minuten-Takt mit nahezu allen ARD-Anstalten – und das über mehrere Tage. Die bis dahin wohl aufregendsten Radiotage beginnen. Aufreibender war nur 2001 die wochenlange Ausnahmesituation nach den Anschlägen vom 11. September. Damals war ich bei ndr2 als Aktuell-Reporter, habe dort im Studio gearbeitet.

März 2006: Vor dem Landgericht Rostock wird gegen sechs Männer aus dem Rotlichtmilieu verhandelt. Der Prozess wird von Polizisten in Kampfanzügen und schwarzen Wollmasken gesichert.

April 2006: Osterratgeber. Zum Thema “Eier köpfen” berichte ich unter anderem über den Eierschalensollbruchstellenverursacher.

Juli 2006: US-Präsident George W. Bush besucht Mecklenburg-Vorpommern. Ich bin drei Tage lang in Stralsund im Einsatz. Statt Ü-Wagen gibt es diesmal ein ganzes Pressezelt mit Reporterkabinen. Live-Einblendungen und Beiträge fast im Vogelgrippe-Takt.

November 2006: Vor dem Landgericht beginnt der Prozess gegen die Eltern von Lea-Marie aus Teterow. Die Mutter hatte das Kleinkind immer wieder gezwungen, Essig und Kalkreiniger zu trinken. Im Laufe der Verhandlung konnte man nicht den Eindruck gewinnen, dass die Frau tatsächlich begriffen hat, was sie ihrem Kind angetan hat.

Februar 2007: Ein Autodieb klaut in Rostock einen Wagen, fährt fröhlich pfeifend durch die Lande, wird sogar mehrfach geblitzt – und die Eigentümerin bekommt weiterhin die Strafzettel. Obwohl die Fotos den schnauzbärtigen mutmaßlichen Dieb zeigen, kann die Polizei den Wagen nicht finden. Am Tag nach meinem Bericht über diesen Fall meldet ein Hörer der Polizei, dass er den Ford am Straßenrand gesehen hat. Auto wieder da.

2007: Die Berichterstattung wird dominiert von den Vorbereitungen auf den G8-Gipfel, die Proteste und Demonstrationen, die Nachbereitung und Rückblicke. Neben den vielen bunten, friedlichen Demonstranten, die vielfältigen Protestveranstaltungen mit teilweise abstrus oder utopisch klingenden Vorstellungen, neben den vielen Polizisten und dem Zaun um Heiligendamm, sind mir aber vor allem die Ausschreitungen im Stadthafen in Erinnerung geblieben. So eine Brutalität habe ich noch nie erlebt. Wie ein Virus schien sich die Bereitschaft zum Steinewerfen auszubreiten. Scheiben splitterten, eine Auto ging in Flammen auf. Selbst Feuerwehrautos wurden mit Steinen beworfen (Brennts bei G8-Kritikern etwa nie?). Auch wenn manche Gruppen der Gipfelkritiker das anders darstellen: Meinem Eindruck nach ging die Gewalt eindeutig von einem kleinen Teil des Demonstrationszuges aus. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen und kann nicht glauben, dass derart Protest- und Polizeiarbeit-erfahrene Demonstrationsteilnehmer immer noch so empfänglich für angeblich Provokationen der Uniformierten gewesen sein sollen.

Lehre aus dem ganzen Chaos und den Pressemeldungen, die beide Seiten verbreiteten: Erst recht in extremen Fällen, wenn viele Dinge unklar sind, Informationen nicht überprüft werden können und von dem einen oder anderen auch gezielt zur Steuerung von Entwicklungen eingesetzt werden könnten, ist die Arbeit für Reporter besonders schwierig und ebenso wichtig.

Die Zahl der Live-Einblendungen aus dem Studio, von Ü- und Satelliten-Reportagewagen überstieg die Menge der Vogelgrippe- und Bush-Besuch-Beiträge um ein Vielfaches. Am Tag der Proteste am Sperrzaun war ich außerdem mit dem Rad unterwegs, weil nicht damit zu rechnen war, mit dem Auto weit zu kommen. Einen zünftigen Sonnenbrand und 60 Kilometer später hatte ich Wasserwerfer durch Kornfelder fahren, Clowns-Armee Polizisten provozieren, Sondereinheiten aus Hubschraubern springen sehen, habe beobachtet, wie Anwohner unter sengender Sonne mitleidsvoll Wasserflaschen an das bunte Völkchen der vorbeiziehenden Demonstranten verschenkten…

Juli 2007: Am 18. Juli überfällt ein bislang Unbekannter die Mutter Christin M., die mit ihrem Sohn durch ein Waldstück in der Nähe von Körchow bei Kröpelin radelt. Er schlägt beide äußerst brutal nieder. Er missbraucht die Frau. Die 36-Jährige stirbt kurz darauf. Eine Sonderkommission bittet mehrere tausend Männer aus der Umgebung zu freiwilligen Speichelproben. Vom Täter keine heiße Spur. Jüngste Entwicklung: Es scheint Zusammenhänge zu ähnlichen Fällen in anderen europäischen Ländern zu geben. Eine heiße Spur ist das immer noch nicht. Der Fall war auch Thema in der ZDF-Sendung “Aktenzeichen xy, ungelöst…”

August 2007: Die wohl aufwändigste Produktion: Der wichtigste Tag im Leben einer Postkarte. Das Kärtchen erzählt am 10. August in knapp 3 Minuten, wie es von Rostock nach München kommt  in nur einer Nacht. Geräusche vom Briefkasten, von Stempel- und Frankiermaschinen, Autos, O-Töne vom Post-Sprecher, Drehbuch mit zwei zusätzlichen, technisch verfremdeten Stimmen. Die Hilfe von gut einem Dutzend Menschen hat diese drei Minuten erst möglich gemacht. Ergebnis: Ein viel gelobtes Kurz-Hörspiel.

Januar 2008: Die Mannschaft von Bundesligist FC Hansa Rostock steckt im Iran fest. Während eines Trainingslagers hat sich das Wetter so verschlechtert, dass tagelang kein Flugzeug in Teheran starten und landen kann, um die Mannschaft zurück in die freie westliche Welt zu bringen. Am 9. Januar läuft unser Hansa-Tagebuch mit einem finktiven Blick in die Zukunft. Gemeinsam mit den Kollegen David Pilgrim und Oliver Schubert habe ich mir weitere Hürden für die Rückreise ausgedacht. Unsere Überlegungen, was die Abreise noch verhindern könnte, gipfelt in der Tatsache, dass nach knapp einem Jahr Hans-Dietrich Genscher zum Lager der Mannschaft im Iran reist und die legendären Worte ruft: “Wir sind heute zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…”

September 2008: Am Rostocker Fußballstadion ist St. Pauli zu Gast. Teile der Fanszene sehen sich gegenseitig traditionell eher feindselig. “Nur zur Sicherheit” sollte ich im Auftrag der Redaktion mal beobachten, wie die Abreise der Fans abläuft. Die Polizei hatte vorher schon klar gemacht, dass sie Randale auf jeden Fall verhindern will. Als dann doch Steine und Flaschen auf eine Polizeisperre flogen, ließ die Einsatzleitung die Wasserwerfer sprechen. Ich stand weit abseits, aber so ein Wasserwerfer hat eine erhebliche Reichweite. Eine kurze Dusche wie bei einem sanften Sommerregen reichte aus, mich vollkommen zu durchnässen, daraufhin das Geburtstagsessen mit der Freundin im feinen Lokal absagen zu müssen und einen Tag später im Nordmagazin auftreten zu dürfen…

Februar 2009: Heute ist mein letzter Tag im Studio Rostock. Hier arbeiten Kolleginnen und Kollegen, die ich einfach nur empfehlen kann und die man gern haben muss. Sie sind nämlich genau das, was sie sind: kollegial. Die gestandenen Redakteurinnen und Redakteure haben jederzeit Tipps und Hinweise gegeben und haben neue Kollegen wie mich vor ein paar Jahren immer aufmunternd und fordernd unterstützt. Für sie und auch für die Reporterinnen- und Reporter-Kollegen gilt, dass sie wirklich wissen, was es bedeutet, wenn man sagt “wir arbeiten zusammen”.  O-Töne austauschen, mit Hintergrundinfos auf den aktuellen Stand bringen  – das alles war jederzeit mit den Hörfunk- und Fernsehkollegen möglich. Das läuft besonders gut, weil auch die Techniker in den Studios und auf dem Ü-Wagen dabei mithelfen und auch die Verwaltung und Sekretariate stets wissen, wie sie helfen können. Mir ist es jeden Tag leicht gefallen, ins Ostseestudio zu gehen, weil es hier auch in großer Hektik ebenso fröhlich wie fair zugeht. Vielen Dank für die schöne Zeit im Ostseestudio!

Zum Abschied gab es heute unter anderem die vierfache Menge der hier verlinkten Zutaten, die – geschickt zusammengerührt – eine Limettentorte ergeben.

Autor: Christian

Der Verfasser aller Beiträge auf kohlhof.de

5 Gedanken zu „Veränderungen“

  1. Na dann viel Erfolg in Schwerin!

    Schade, dass Du aus Rostock weggehst und somit eigentlich kein Nachbarblog bei blogoscoop mehr sein wirst. Ich werde das Blog aber trotzdem weiterlesen, auch wenn ich in Zukunft auf Interessantes aus Rostock verzichten muss. ;-)

  2. verdammt nochmal! Wie soll ich das meinen Eltern erklären? Du haust einfach so ab! Viel Erfolg aufm Land.

  3. Als fleißige Besucherin deiner Seite habe ich keinen Beitrag versäumt. Hast tolle Arbeit geleistet und bringst jetzt einfach mal so alle deine Kolleginnen und Kollegen zum Weinen. Heul, heul. Machst neue Erfahrungen, die man ja in deinem Alter dann auch mal ruhig machen darf, dafür viel Erfolg und Glück und dann kannst du ja immer noch irgendwann später back to the roots … Na dann! Aber diese Seite wirds ja wohl weiterhin geben? Musst doch deine Leserschaft auf dem Laufenden halten.

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