Krawattenfrage

Wer die Einladung zu rauschenden Festen annimmt, legt sich eine schwere Bürde auf. Eine Diskussion um angemessene Kleider und Krawatten kann schließlich Wochen dauern. Das Ergebnis ist allerdings immer gleich: Am Ende muss zum Beispiel mindestens ein neuer Schlips beschafft werden. Bisher. Ein Vorschlag zur Deeskalation.

Es ist doch so: Kaum erhält man die Einladung zu einem rauschenden Fest, stellt sich die Kleidunsgfrage. Nicht so sehr bei den Herren, wohl aber bei den Damen. Unlängst erhielten wir die Einladung zu einem dreitägigen Hochzeitsfest, versehen mit den Kleidungshinweisen zu jedem Tagesordnungspunkt: Frack, Cutaway oder dunkler Anzug wurden den Herren nahegelegt. Und obwohl die Damen also vollkommen frei in der Gestaltung und Wahl ihrer Festgarderobe waren, beherrschte der Ausruf: „Ich habe nichts anzuziehen!“ die Wochen und Monate vor dem Glockenläuten. Das ist kein Klischee, sondern grausame Realität.
Leider überträgt sich dieser subjektiv empfundene Gewänder-Notstand vom einen Geschlecht auf das andere – wie bei einer Osmose, also der Diffusion von Molekülen durch eine semipermeable Membran. Während Frauen also aufzählen, was sie alles nicht anziehen können, was deshalb zusätzlich beschafft werden muss – und was an weiteren Accessoires sonst noch notwendig ist, um sich nicht allzu elend fühlen zu müssen, dringen beschwichtigende, männliche Gegenreden nicht bis zur Dame des Herzens durch. Argument-Moleküle wie „niemand wird sich daran erinnern, dass Du dieses Kleid schon einmal auf einer anderen Feier getragen hast… es waren ja ganz andere Gäste da“ prallen an einer Art unsichtbaren Membran ab. Als Antwort wird schließlich die Krawattenfrage gestellt, verbunden mit dem Appell, dass man jetzt endlich mal einen schönen Schlips umbinden solle (dass alle bisher verwendeten ebenfalls fremdbestimmt den Weg ins eigene Krawatten-Portfolio fanden, wird bei diesen Gelegenheiten gern verschwiegen).
Es ist ein schönes Ritual, dass vor jeder größeren Feier Herren sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie hätten bisher nur misslungene Binder getragen. Aus diesem Grund erhöht sich die Zahl der Krawatten im Kleiderschrank mit jeder Gesellschaft, zu der man geladen ist, um mindestens den Wert eins. Irgendwann werden auch in zahlreichen ähnlichen Debatten gestählte Männer weich. Wenn man dann also ein neues Kleid für die Dame kauft, dann nimmt auch gleich noch einen oder zwei Schlipse mit, dann hat die liebe Seele ruh’ – und die Dame des Herzens vielleicht ja unter Umständen und möglicherweise tatsächlich recht. „Krawattenfrage“ weiterlesen

Lettland Backstage

„Wenn wir in Lettland ,Ligo’ feiern, dann regnet es. Immer!“ Ilze hat gar nicht erst versucht, uns mit falschen Versprechungen zu locken. Wer Mitsommer in Lettland feiern wolle, müsse sich auf nasses Wetter einstellen. Und auf Musik. Und Tanz. Und Baden. Und Sauna. Und schlafen dürfe man auch nicht. Aha.

Schönwetterwolken über kühlem See in Lettland, Panorama
Gegend, viel Gegend gibt es im Landesinnern von Lettland: Und viel Wasser, wie an diesem...


Holzplanken führen durchs Schilf Richtung See
... malerischen See. Tagsüber gab es beim Kurzbesuch im Juni viele Gelegenheiten, Lettlands Osten zu erkunden. Abends wurde kräftig gefeiert.
Ältere Menschen mit Blumenkränzen und auf einer Bank
Ligo, wie das Mittsommerfest in Lettland heißt, kann man natürlich in der Hauptstadt Riga feiern, so wie diese hübsch herausgeputzten Herrschaften.
junge Leute tanzen Arm in Arm
Muss man aber nicht. Feiern am anderen Ende von Lettland: Singen und Tanzen gehört dazu.
Morgennebel steigt aus einer Wiese im fahlen Sonnenlicht
Morgenstimmung über Latgale: Dass auf diesem Bild kein Storch zu sehen ist, ist allein der Geduld des Fotografen zu verdanken, der lange genug gewartet hat, bis das Motiv endlich storchenfrei war... hüstel.

Wir* waren eingeladen, das alles im Osten, ganz im Osten, 30 Kilometer vor der Grenze zu Weißrussland zu feiern. Backstage sozusagen.
Und dort, 300 Kilometer entfernt von der jung wirkenden, pulsierenden Hauptstadt, ist alles etwas anders. In Lettland gibt es sowieso schon viel Gegend. Besonders viel Gegend mit weiten Hügeln, wilden Wiesen, grünen Wäldern und auf jedem zweiten Strommast ein Storchennest gibt es in der Region Latgale.

Alte weiße Katze mit zerzaustem Fell
Kater Pesso: Das Fell zerzaust oder ausgefallen, die Augen trübe, die Pfoten träge. Das Tier ist 16 Jahre alt und damit fast so alt wie das neue Lettland. Eine Institution im Haus sozusagen.

Vereinzelt gibt es Dörfer, vor allem aber einzelne Höfe oder Wohnhäuser, wo sich grau-verwitterte Holzhäuschen um Brunnen oder Teiche drängeln.
Hier wurden wir besonders herzlich aufgenommen, umsorgt, umkocht, umhegt – und zu Waldarbeiten herangezogen. Zu unserer Unterkunft gehört auch dieser Rentner:

Mann mit Eichenlaubkrone
Kopfschmuck für Letten: Eine Krone aus Eichenlaub.

Ligo ist nur ein Teil der Feierlichkeiten, nach Ligo kommt das Janis-Fest, Johannes-Fest. Namenstag für alle Letten dieses Namens, die zur Feier des Tages besonders bunte Eichenlaubkronen tragen dürfen und mit selbstgebrautem, würzigem Bier auf das Wohl aller Gäste anstoßen. „Wir haben sowieso für jeden einen Namenstag“, sagt Ilze, „es gibt sogar einen Tag für alle, die keinen eigenen Namenstag haben.“
Waldarbeiten also. Weil es bei Ligo vor allem um Mutter Natur, bunten Sommer und die Hoffnung auf eine gute Ernte geht, spielt die Dekoration eine besondere Rolle.
Mädchen flechten sich bunte Kränze aus roten, weißen, gelben und blauen Blüten ins Haar. Männer scheuen sich nicht, mit einer gigantischen, wippenden Krone aus Eichenlaub die Nacht zu durchtanzen.

Zur Dekoration der Festräume dienen Birkenzweige. Äste und Eichenlaub zu besorgen war unsere Aufgabe. Man vertraute uns also ohne Einschränkungen, denn wir wurden mit einer Axt in den Wald geschickt und kamen wenig später tatsächlich schwer beladen (und von blutrünstigen Mücken geradezu durchlöchert) wieder zurück.
Gesang, Musik auf der Freilichtbühne im nächsten Ort und Lagerfeuer am Ufer des nächsten Sees bestimmten den Ligo-Abend. Es gab viel Bier.
Am nächsten Abend wurden 40 Gäste erwartet.
Selbst wenn man kein Wort Lettisch spricht, bekommt man trotzdem mit, dass etwas Besonderes in der Luft liegt. Es reicht, für eine Minute das Radio anzuschalten. “Ligo, Ligo, Latvia, lalala” dröhnt es stimmungsvoll und schmissig in allenerdenklichen Stilen von Rock bis Ska aus den Lautsprechern. Mehr Text ist oft nicht enthalten. Ligo ist eben vor allem Musik – und nicht lange Reden.

Holzhaus am Gartenteich
Die Sauna mit Teich bei Tageslicht.

Das Janis-Fest war eine große Sause, die sich zwischen leerstehender Scheune, die als Festsaal diente und der Sauna gegenüber abspielte.

Metallbottich unter freiem Himmel im Sonnenuntergand
Freiluft-Badewanne, mit Holzfeuer beheizt.

Der schilfumrahmte Teich daneben diente dann gleich als Abkühlbecken. Der Hausherr, Ilzes Vater, hatte die Sauna rechtzeitig auf Betriebstemperatur gebracht. Im dicken schwarzen Kessel tuckerte das kochende Wasser, immer wieder zischte Aufguß um Aufguß auf den heißen Steinen drumrum. In der kleinen, feuchtheißen Butze herrschte ständiges Kommen und Gehen. Saunieren gehört zu einer Feier in Lettland ganz offensichtlich zum Standard-Programm. Man achtet dabei aber streng auf die passende Kleidung. Männer in Badehose, Frauen im Badeanzug. Nackt geht bei diesen Gelegenheiten in Lettland niemand in den Dampf. Selbst am Badesee zieht sich jeder brav in der Umkleidekabine um – und keinesfalls einfach so ohne Blickschutz am Strand. Man ist da sehr genau in Lettland…
Selbstverständlich gab es andauernd etwas zu essen. Angefangen von Schwarzbrot mit kräftigem Kümmelgeschmack über Räucherfisch, kalte Suppen mit Roter Beete und Kefir angemacht und deshalb frühlingshaft rosa, Keksen bis hin zu zünftigem Saslik, Fleischspießchen vom Grill also – die ganz Nacht.
Zwischen dieser fröhlichen Völlerei, dem Aufheizen und Abkühlen fanden wir auch immer noch Zeit zum Entspannen im beheizbaren Pool, Marke Eigenbau, Platz zu nehmen:


Büste aus Granit mit Namen
Einfach ein S dranhängen. So funktioniert Lettisch, zumindest manchmal. Denkmal in Riga.

Dieser Metalltrog heizte das Wasser auf Wohlfühltemperatur auf, und zwar durch den eingebauten Ofen – man erkennt ihn am Schornstein. Darin sitzen, ein kühles lettisches Bier in der Hand, und über einem der Sternenhimmel des Baltikums… herrlich.
Verständigt haben wir uns weitgehend auf Englisch – die meisten Letten sprechen es sehr gut. Das ist sehr touristenfreundlich. Besucher verstehen nämlich für gewöhlich nichts vom Lettischen und können sich deshalb nur höchstens hilflos lächelnd über die vielen S amüsieren, die viele auch in Westeuropa bekannte Wörter ergänzen: Bars, Restorans. Aber woher soll man bitte wissen, dass “siers” Käse heißt und woraus ableiten, das “piens” Milch bedeutet. Bei “kefirs”, na gut, da ja. Aber “Lacplesis ir labs alus” (hier ohne die typischen Häkchen und Striche an diversen Konsonanten und Vokalen), kann man nur noch mit einheimischer Hilfe deuten: “Lacplesis ist ein gutes Bier.”



Kirche, Außenansicht
Das zum Beispiel ist der Doms von Riga...


So erklärte man uns im Laufe der Feier auf Englisch, dass auch wir übers Feuer hüpfen sollten, so wie diese beiden Damen da:

Zwei Frauen springen über ein Lagerfeuer
Möglichst elegant in den Sommer hüpfen.

Auch das gehört zum zünftigen Zelebrieren in Lettland dazu. Und auch der Verzicht auf Schlaf, wenigstens in den Nächten, in denen die Sonne über Lettland nur für eine knappe Stunde hinterm Horizont verschwindet.
Am Lagerfeuer erwartete man den nächsten Morgen:

Menschen stehen am Lagerfeuer
Morgenstimmung am Lagerfeuer nach durchfeierter Nacht.

Die Einheimischen haben bis 9 Uhr durchgehalten, wir waren um 5 Uhr einfach fertig. Man bescheinigte uns aber, dass wir recht gut durchgehalten haben.
Ach so: Und geregnet hats dann doch nicht. Perfekt.

Für Riga selbst und andere Regionen Lettlands blieb kurz nach der Ankunft und kurz vor dem Abflug kaum Zeit. Ein paar Eindrücke sollen aber nicht fehlen:

Vorhängeschlösser am Brückengeländer
Vorhängeschlösser für ein glückliches Miteinander: Brautpaare schließen an diesem Brückengeländer in Riga symbolisch ihr Glück an und werfen anschließend den Schlüssel ins Wasser - damit das Schloss nier wieder geöffnet werden kann... Hach ja...
Die Nationaloper in Riga im Abendlicht.
Die Nationaloper in Riga im Abendlicht.


Fensterhöhlen in altem Gemäuer
Burgruine von Koknese. Die dicken verfallenen Mauern über dem Fluss Daugava sind Anziehungspunkt für Touristen und Schauplatz für die Legende vom Nationalhelden Lacplesis, der in einen seltsamen Kampf mit einem dreiköpifigen Monster vom anderen Ufer verwickelt wurde, den er aber nicht überlebte.... na ja, tragisch eben.
weiße Kirchtürme vor grauem Himmel
Wallfahrtsort. Wo diese Kirche steht, soll es einst eine Marienerscheinung gegeben haben.


* Martin Rosenplänter und ich.

Alle Fotos habe ich gemacht.

Lettisches Radio aus Latgale zum Nachhören.

Vielen Dank an Ilze und Karlis und an alle ihre Freunde und die Familie für die schöne Zeit in Lettland!