Alarmierende Postmoderne

Schmidt in Shanghai: als Gurkendieb, als Kunstkritiker und auf der Flucht.

Shanghai bietet viel für Touristen, wenngleich in der zentral befohlenen Urlaubszeit im Oktober so viele Chinesen von Ulumuqi und anderen Provinzen kommen, dass die Stadt noch mehr aus den Nähten platzt als sonst schon. So zwänge ich mich früh morgens von einem Drehkreuz in der U-Bahn zum nächsten und hoffe, dass die Dame am Schalter die richtige Strecke auf meine Karte geladen hat. Es wird sehr eng und ich presse meine Finger um die Tasche. Die soziale, klaustrophobische Fern- und Nahdiagnose meiner Mit-Steher beinhaltet Knoblauch, transpirative Anstrengung und einige Überraschungen mehr. Puh, nächste Station People´s Square, also der Platz des Volkes. Ich steige aus.

Als ich gerade ein wenig Luft schnappe und am Ausgang ein alter Kauz auf der berühmten Kniegeige Erhu spielt, zieht ein Kind an meiner Hand und ich finde es niedlich, weil es mich wohl mit jemandem verwechselt. An der anderen Hand zieht nun die Mutter, was ich nicht niedlich finde. Sie sagen laut „Dào“ zu mir. Lustig, bei einem absurden Beispieltext in meinem Chinesisch-Buch hieß dieses Wort „Dieb“, aber wer kann schon diese Menschen verstehen. Sie beschreiben mir mit Blick auf meine linke Hand ihr Anliegen. Ich habe in der U-Bahn-Enge und Egozentrik nicht nur nach meiner Tasche, sondern auch nach einer kleinen Tüte kleiner Gurken von einer Frau gegriffen. Ich entschuldige mich irgendwie und versuche, tief einatmend, fix das Weite zu suchen, aber das ist gar nicht leicht. Der Versuch ist bei den vollen Straßen so sinnvoll wie mit jemandem in einem Fahrstuhl Fangen zu spielen.

Nun jedoch sehe ich die Familie nicht mehr hinter mir und ich gehe auf den Platz des Volkes, wo es viele Jugendliche gibt, die den nationalen Feiertag genießen und sich gegenseitig mit Handys an Springbrunnen oder auf Parkbänken fotografieren. Mein Ziel für diesen Tag ist das ganz nahe Museum für neue Kunst, wo schon tausende von Leuten anstehen, und so auch ich. Nach fast zwei geduldigen Stunden Anstehens, die ich Dank einer gewissen Jane Austen tief versunken im romantischen England des 18. Jahrhundert verbrachte, werde ich plötzlich von den hinter mir drängelnden Studenten gefühlte 20 Kunstepochen von der Romantik in die Gegenwart geschoben.

Es ist alles jämmerlich post-post-modern, obwohl ich gewillt bin, mich zu freuen und es wenigstens „interessant“ oder „nett“ zu finden. Man hat Figuren von Dinosauriern die Köpfe abgeschlagen und feixende Clowns-Köpfe drauf gesetzt. Na gut. Dann eine Videoprojektion einer angeblich erfolgreichen Münchnerin: Fahrende Busse und Autos, wild geschnitten und mit Ton versehen. So weit, so schlecht. Dann ein Flugzeug aus Pappmaschee, an dessen eine Tragfläche ein Auto gebastelt wurde. Ach, schau an. Weiter oben gibt es ähnliche Räume ohne Sinn. Ein sehr großer Saal voller Sessel und Couchen beinhaltet nichts, nur Dunkelheit und eine kleine Diskokugel, welche die Herumsitzenden Kunstfreunde mit kleinen hellen Punkten umspielt. Aufregend. Ganz oben helle und dunkle Räume, bei einigen glaubt man, ein Zahnarzt könnte nicht weit sein, bei anderen ist man durch die Umgewöhnung natürlich wie ein Maulwurf und fasst schon mal den ein oder anderen Gast an, der auch nichts sieht. Puh, nur schwarze Decken und labyrinthische Ecken, um sie man sich herum windet. Ich denke bei mir, wenn hier mal was passiert, oje. Dann ein riesiger Raum mit ein paar Ampeln und Leuchten, aber er ist sonst sehr, sehr, wie soll man sagen, leer. Nur der sich an der Decke zwirbelnde schwarz-graue Qualm ist ganz interessant gemacht.

Ich zucke die ganze Zeit unwillkürlich mit den Schultern, weil ich die Metaebenen dieser Kunst dann noch schwer knacken kann, und drehe mich zum nächsten Raum. Auf einmal ein lautes Klirren wie von zersprungenem Glas und ein rotes, blinkendes Licht an der Decke. Einige Sekunden später eine Art langsame Sirene und eine ernste Frauenstimme, die auf Chinesisch drohend ruft. Angesichts der Geräusche und Alarme wird mir bewusst, nein gar nichts wird mir bewusst. Ich handle. Ganz schnell runter die Treppen, dritter Stock, zweiter Stock, erster Stock, und raus aus dem qualmenden Haus.

Skulptur: Rostige Gestalten
Skulptur: Rostige Gestalten vor Dampf-Lokomotive. Foto: Carsten Schmidt

Ich poltere aus einer Seitentür und purzele mit dem Ellenbogen ein wenig seitlich gegen Rost, künstlerisch aufgestellt. Au, das gibt also eine Rostbeule am Ellenbogen. Scheiß Sprachspiele. Drei rostbraune Bürger winken als postmoderne Figuren auf einem Bahnsteig mit Mao-Büchern ihrem großen Herrn in einem Zugabteil zu. Verwirrt blicke ich um mich. Ein Museumswärter, der eben noch die Seitentür galant aufriss, lacht nun mit einigen Verlusten auf der Vorderfelge, und fragt auf Englisch: „Hat Dir die Alarm-Performance gefallen?“. Ich verneine verdutzt. „Ist aus Japan“. Super, denke ich mir, und wische den Staub vom Hintern. Vielleicht mache ich mal was Ruhiges, zur Abwechslung. Noch Fragen, Kienzle? Ja: Erlebt man hier auch mal einen normalen Tag?

Carsten Schmidt, Freund aus Rostocker Uni-Tagen, berichtet in dieser Rubrik über seine Erlebnisse in Shanghai, wo er nun als Deutsch- und Englischlehrer arbeitet. Die Texte erscheinen auch bei miescha.de.