Lena und Horst

Erst Lena, dann Horst. Erst Begeisterung, dann Enttäuschung. Eine schriftliche Aufarbeitung des Eurovision Song Contest 2010 und der Bundespräsidentenrücktritts.

Was für ein aufregender Wochenstart. Erst gewinnt Deutschland nach 28 Jahren wieder mal den Song-Wettbewerb der Eurovision, ist mehrheitlich im Freudentaumel, und einige Kolumnisten sehen die erfolgreiche 19-Jährige Sängerin nach ihrer Heimkehr am Sonntag schon als Bundespräsidentin, spaßeshalber – und einen Tag später muss Deutschland wirklich ein neues Staatsoberhaupt suchen. Das alles muss ich jetzt hier verarbeiten.

Zunächst mal Lena: Glückwunsch zu diesem gesamteuropäischen Erfolg. Glückwunsch auch zu dieser Mischung aus Witz, Unbekümmertheit und gesunder Skepsis gegenüber der “interessierten Öffentlichkeit”. Fragen nach privaten Angelegenheiten blockt sie weitgehend ab. Warum auch nicht? Jeder darf selbst entscheiden, was andere über eigene Vorlieben sowie Familie und Freunde erfahren sollen und was nicht. Die Fragen danach werden aber immer wieder gestellt werden, weil Journalisten sie immer wieder stellen werden. Da muss Frau Meyer-Landrut aufpassen, dass sie dabei nicht zu zickig wirkt – so war jeweils mein Eindruck zeitweise in den letzten Tagen. Eine sachliche Antwort wie “über private Angelegenheiten gebe ich keine Auskunft” wäre angemessener.

Stefan Raab hat ja schon vorgeschlagen, dass Lena Meyer-Landrut im kommenden Jahr wieder beim ESC antreten soll – die Vorentscheidung könne dann ja so ablaufen, dass die Zuschauer über das Lied abstimmen. ESC-Fachmann Jan Feddersen vermutet dahinter aber nur ein Ablenkungsmanöver. Ohnehin: Was soll Lena beim Grand Prix denn noch erreichen? Alles andere als ein zweiter Sieg würde doch wie eine Niederlage im Vergleich zum Vorjahr wirken… Und wieder zu gewinnen, das ist dann doch zu unwahrscheinlich.

Tiefpunkt in dieser ESC-Saison sind allerdings die Äußerungen von Dauer-Komponist und -Produzent Ralph Siegel: Er sei weiterhin der einzige Deutsche, der den Komponistenwettbewerb ESC – denn genau das ist der Grand Prix – gewonnen habe: 1982 mit Nicoles “Ein bisschen Frieden”. Lenas “Satellite” stammt von einem Komponisten-Team aus Dänemark und den USA. Abgesehen davon, dass auch Herr Siegel anderen einfach mal ihren Erfolg gönnen können sollte, habe Siegel noch nicht mal recht, wie oslog.tv schreibt: An Vicky Leandros’ Siegertitel  für Luxemburg von 1972 hat ebenfalls ein Musiker aus Deutschland mitgeschrieben.

Höhepunkt am Sonnabend war dann aber, abgesehen vom 12-Punkte-Inferno, die Flashmob-Inszenierung während der Abstimmungsphase. Zwar waren die meisten Tanzeinblendungen von Europas Straßen und Plätzen vorproduziert – aber allein dieser Gedanke, dass das alles Europa und seine Nachbarn sind, die da zusammen feiern, war schon faszinierend. Dass die Tanzeinlage aus Hamburg außerdem live eingebunden wurde, ist auch insofern beeindruckend, weil die Bewegungen synchron zur Musik waren – obwohl zwischen Telenor-Arena und Spielbudenplatz die Daten über einen Satelliten mehrere tausend Kilometer zurücklegen mussten. Aber Satelliten sind ja sowieso was Tolles. Glückwunsch deshalb auch an die Techniker.

Das dazu, kommen wir zur bedeutendsten Stellenausschreibung dieses Jahres: “Die Bundesrepublik Deutschland möchte die Stelle ihres höchsten Repräsentanten/ihrer höchsten Repräsentantin neu besetzen.”

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Horst Köhler erklärt, dass er vom Amt des Bundespräsidenten zurücktritt. Foto: Bundespräsidalamt

Erst wollte ich es nicht glauben. Drei Eil­meldungen blinkten in Signal-Rot auf mei­nem Re­dak­tions-Monitor: “Bun­des­prä­si­dent Köh­ler ist zu­rück­ge­tre­ten”. Von 14:03 Uhr war die er­ste Mel­dung. “Das muss ein Miss­ver­ständ­nis sein und wird ein Rie­sen­skan­dal und eine Debatte um Sorg­falt im mo­der­nen Hoch­­ge­­schwin­­dig­­keits-Jour­na­lis­mus auslösen”, dachte ich mir. Dann änderten die Fernsehsender ihre Programme und zeigten Horst Köhler, wie er fast original wie Mathias Richling, im Schloss Bellevue vor die blassblaue Stellwand trat, um etwa ebenso bleich seinen sofortigen Rücktritt zu verkünden.

Mal abegesehen davon, dass das nun ein langer Arbeitstag wurde, wurden sofort Erinnerungen an ein paar kurze arbeitsbedingte Begegnungen mit dem neunten Bundespräsidenten wach.

Gestern, am Tag des Rücktritts, überwog dabei das Mitgefühl mit diesem Mann, der offensichtlich sehr gekränkt und enttäuscht seinen Amtsverzicht erklärte. Die Kritik an seinen missverständlichen Äußerungen zu deutschen Militäreinsätzen zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen hält er für zu heftig. Tatsächlich glaubt wohl niemand ernsthaft, Horst Köhler hielte es für eine gute Idee, deutsche Streitkräfte trotz eindeutiger und richtiger Regelungen im Grundgesetz in einen Wirtschaftskrieg zu schicken. Das hätte ihm niemand zugetraut… den Rücktritt allerdings auch nicht. Trotzdem: Die Äußerungen im Deutschland-Radio-Interview waren eben unglücklich.

War es also gestern noch so ewtas wie Mitgefühl mit Köhler, so hat sich das heute im Laufe des Tages bei mir doch gewandelt. Die Debatte um seine unscharfen Ausführungen war schon längst abgeebbt. Er hatte diese Angelegenheit bislang nicht gut gemeistert, aber er hätte sie überstanden. Auch ohne die erhoffte Hilfe der Kanzlerin. Und dann hat dieser Mann ja auch noch bei Amtsantritt geschworen, “Schaden vom deutschen Volk abzuwenden” – aber das Gegenteil dürfte er jetzt erreicht haben. Nun muss sich die ohnehin schon bloß mühevoll zusammenarbeitende Bundesregierung auch noch mit der Suche nach einem neuen Kandidaten für die Bundesversammlung am 30. Juni beschäftigen. Man hat ja sonst nichts zu tun… Finanzkrise, Griechenlandkrise, Eurokrise, Englisch lernen – und jetzt also auch noch ne Präsidialkrise. Na toll.

Bleibt die Frage, wer Lena denn jetzt das Bundesverdienstkreuz überreichen soll. Ach ja, das wird sie sich dann wohl bald selbst verleihen…

Autor: Christian

Der Verfasser aller Beiträge auf kohlhof.de

9 Gedanken zu „Lena und Horst“

  1. Lena – alles toll, dem ist nichts hinzuzufügen.

    Horst Köhler, au weia, da bin ich doch auch geschockt. Meine erste Reaktion war: Na ja, er ist irgendwie konsequent. Hat aber nicht lange angehalten. Die nächste Reaktion war, das hätte er nicht tun dürfen, nicht in dieser sowieso schwierigen Zeit. Und wer kritisiert, muss auch einstecken können. Ob die Kritik nach seinen umstrittenen Äußerungen (auch hier bin ich mir leider nicht sicher, ob da nicht ein Fünkchen Wahrheit drinsteckt) dann angemessen rüberkam, ist etwas zweifelhaft für mich. Man höre bzw. lese zu dem ganzen Afghanistan-Einsatz mal den Experten Peter Scholl-Latour. Ich habe den Beitrag im Focus gelesen und ich finde das schon plausibel, was er da von sich gibt.

    Ich musste mich zu Anfang erst mit Horst Köhler auseinandersetzen. Wer ist dieser Mann? Nein, so charismatisch wie einst Herr von Weizsäcker ist er nicht (unerreicht). Aber gut, eigentlich doch ganz sympathisch. Und auf einmal habe ich ihn gemocht. Wie er sich doch auch mal geäußert hat, kundtat was ihm nicht gefiel. Doch, das hat mir gefallen. Ich finde, ein Bundespräsident darf das. Aber wie du schreibst, er hatte geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden – und daran hat er sich jetzt auch meiner Meinung nach nicht gehalten. Schlechtes Timing, Herr Köhler. Aber ich wünsche Ihnen doch alles Gute – genug Puste bei der Bergbesteigung mit Herrn Waigel, mehr Puste jedenfalls als gerade gehabt.
    Was kommt jetzt? Wir werden sehen, uns fragt ja mal wieder keiner.

  2. Sorry, aller guten Dinge sind drei. Noch was vergessen: Ich weiß, der Beitrag ist schon etwas älter, aber für die Meinung von Herrn Scholl-Latour noch genauso aktuell. Ich habe ihn dazu auch mal ein einer Talkshow gesehen, da hat er nix anderes von sich gegeben.

  3. Ganz aktuell muss diese Meldung jetzt noch sein. Eben in der Leute-Sendung von SWR1 gehört. Eine ganz einfache Erklärung zum Rücktritt Horst Köhlers von Politikwissenschaftler und Köhler-Biograf Gerd Langguth. Die Sendung kann sicherlich in den nächsten Tagen als Podcast heruntergeladen werden. Jetzt erst einmal der Link zu einem Interview:

    http://www.gerd-langguth.de/artikel/general_anzeiger_bonn_koehler_ruecktritt.htm

    Sollte er das wissen??? Auf alle Fälle besser als wir.

  4. Glaube auch, dass ein vereinendes Satellitentänzchen momentan mehr zur guten Europa-Laune beiträgt, als sich wiederholende, unfaire und satirikerelfmetergriechenlandwitze.

  5. Dachte auch, dass das unatastbare Amt des Bundespräsidenten was abkann. Najut, dann sachter: “Ihr seid alle doof und ich geh jetzt nach Hause” – nächstesmal bitte mehr Respekt bitte.

  6. Die Mehrheit der Bevölkerung versteht es nicht! Nur unsere aalglatten Politiker respektieren diese Entscheidung – zumindest nach außen bei Anne Will.
    Ja, Herrn Gauck, den würde ich auch nehmen! Nichts gegen Herrn Wulff, but not for president! Und irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass die WM gerade mal wieder zur richtigen Zeit stattfindet. Raus aus der Misere, rein ins Vergnügen – und danach hat sich einiges geregelt!
    Na dann … ich gebs zu, ich warte auch drauf und genauso wie ich von Anfang an auf Lena getippt habe, tippe ich jetzt auch als Berufsoptimistin auf Germany!

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