I am a little alien

Schmidt in Shanghai: Verzweifelt – in einem Handy-Laden, auf der Straße und überhaupt.

Vielleicht habe ich einen großen Fehler gemacht, indem ich hierher kam. Einen Denkfehler. Vielleicht habe ich zu Unrecht gedacht, dass es naiv ist und ein wenig illusionistisch, z. B. in Uganda eine Sprachschule für Deutsch und Englisch aufzubauen. Vielleicht sollte ich die Leute, die mir davon erzählten, anrufen und sagen, dass es mir leid tut und sie mehr Chancen haben als ich hier.

Seit meiner Abiturprüfung in Mathe 1998 habe ich mich nicht mehr so dumm, so hilflos und ausweglos gefühlt wie bei der offenbar naiv von mir möglich gedachten Unmöglichkeit, in der dörflichen Stadt Ehu Town, zwischen Suzhou und Wuxi, eine pre-paid-Card für mein Handy zu kaufen.

Okay, man denkt, man nimmt sein Handy, Geld, seine Handy-Karte und ein Wörterbuch in einen der vielen großen „China Mobile“-Läden mit. Aber nichts zu machen. Nicht nur haben sie mich nicht verstanden, sie standen mit zehn Leuten um mich herum und telefonierten nach Leuten, die 3 Worte mehr Englisch zu können glaubten als sie, aber auch das war erfolglos. Keiner der Leute verstand meine notierten Worte „international call card for 200 Yuan“.

Nun ja, ich lächelte, aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Ganz klar mein Denkfehler. Vielleicht ist es zu schwer, in einem Laden für Mobiltelefone eine Telefonkarte zu kaufen. Es mag in einem Obstladen einfacher gehen. Meine Bereitschaft zu gehen wächst, da steht die Sekretärin meines Bosses neben mir und redet auch noch eine Weile. Eigentlich hatte ich mich bis dahin nur unwohl gefühlt, aber nicht peinlich berührt. Ab dann schon. Wie viele Schwächen kann ein Sprachlehrer zeigen? Bei Shakespeare gibt es (bei den „Zwei Gentlemen aus Verona“?) den Spruch: „Ich beginne zu verstehen, dass aus mir gerade ein Arsch gemacht wird“. Tja! Ich schaue dusselig um mich und starre wie eine Gans wenn es donnert auf die lauteste Verkäuferin, die eine Kunden anlockende Schärpe um und eine Art Papp-Diadem auf hat, beides mit programmatischen Sprüchen bestickt. Vermutlich auf Deutsch: Regel 1: „Wir sind immer für sie da, so lange Sie Chinese sind“. Regel 2: „Mit Mao geht alles irre steil nach vorne los“. In dem Aufzug sieht sie ein wenig aus wie eine sorbische Gurkenverkäuferin aus dem Spreewald. Das, mit Verlaub, ist aber auch schon das Lustigste an ihr. Plötzlich Getuschel in meine Richtung. Die Verkäufer wollen meinen Pass sehen. Wie bitte? Es klatscht gleich, aber keinen Applaus! Brauche ich denn hier für jede gekaufte Banane ein Foto und eine Genehmigung? Ja, beim Konfuzius, der Pass ist bei der Polizei, also Ende der Diskussion. Tschüss.

Ich dankte dann der Sekretärin und ging weiter einkaufen. Bei einem Fotoladen konnte ich kurz darauf innerhalb von 5 Minuten 12 Passbilder machen, die ich nächste Woche für weitere Späßchen mit der Polizei brauche. Ich sagte das chinesische Wort für Foto und dann das für Reisepass (hùzhào), und der gute Mann nickt und setzt mich auf einen Stuhl, rückt mein Kinn zurecht, knippst, druckt, und gibt mir 12 Fotos. Kaum fünf Minuten, also ist hier Service doch möglich. War ja auch leichter, ich konnte ja schlechterdings Avocados oder einen Wonder-Bra in seinem Laden kaufen, obwohl…

Dann jedenfalls gehe ich weiter die Straßen entlang, wo Fahrer in ihren kleinen Vehikeln schlafen, Eisenhändler im Hocken rauchen, Wäschefrauen auf dem Bordstein Steinspiele spielen. Einige zeigen auf mich und sagen laut „nánkàn wàiguórén“. Meist freue ich mich, wenn ich mal zwei Worte im Radio oder im Gespräch verstehe, aber die Freude ist nicht immer da, denn es heißt „hässlicher Ausländer“, und ein Mann, zwei Meter vor mir, dreht seinem Kind den Kopf zu mir und zeigt in mein Gesicht. Ich fühle mich ganz, ganz tief zum Kotzen. Mein Blick geht auf meine Schuhe und ich beiße mir auf die Lippen wie ein Pubertierender nach einer Dummheit. Ich gehe tapsend auf die andere Straßenseite, wo ich in einem kleinen Laden wenigstens ohne Polizeizeugnis das Brot greifen kann, was ich möchte. Vielleicht hilft es, bei aller mitteleuropäischer Verwöhntheit, allem Egoismus und der Arroganz, sich alle 10 Jahre – seit der Abi-Prüfung 1998 – mal 5 Minuten lang so zu fühlen.

Nun wird es aber eigentlich erst interessant. Man könnte denken, dass sich die zehn Mitarbeiter von China Mobile doof fühlen sollten, wenn sie englische Sprüche über guten Service an den Wänden haben, aber sie lachten nur. Ich bin derjenige, der sich doof fühlt. Ich hätte nicht gedacht, dass hier derart viele Leute auf dem Motorrad oder Fahrrad beinahe einen Unfall bauen oder sich den Kopf aus dem Scharnier drehen, um mir 12 Mal nachzuschauen.

Okay, ich habe hier Arbeit als Lehrer, ich werde für chinesische Verhältnisse sehr gut bezahlt. Und viele sind freundlich zu mir. Der deutsche Boss befiehlt die Kurse und ich unterrichte so wie er es sich denkt. Aber alles eben: Diktatorisch, nicht gewollt. Dass Kinder oder Schüler keine Lust oder kein Verständnis für Unterricht haben, kenne ich schon lange. Aber in welchem Maße ich hier nicht gebraucht und teilweise auch nicht gewollt werde, das habe ich wohl unterschätzt. Von den dutzenden Arbeitern, Ingenieuren und Managern, die ich unterrichte, sind vielleicht 5 von sich aus interessiert, nach meinem Gefühl.

Als Sprachlehrer brauche ich die Welt und die Veränderung der Welt. Aber 99,99 % der Welt braucht mich als Sprachlehrer nicht. Ein Vergleich zu Deutschland fällt nun auch nicht gerade günstig aus. Ich habe meinen Schülern meist erzählt, dass sie Sprachen brauchen und dass sie ihnen die Türen öffnen für die ganze Welt. Aber eventuell habe ich sie, wie Goethes Faust, an der Nase herumgeführt. Hier jedenfalls, und auch meistens in Deutschland, kann man auf Ausländer „verzichten“, man braucht kein Englisch, wenn nur einer von 50.000 Kunden ein Ausländer ist wie ich hier. Es ist, als hätte ich, tausende Kilometer weg, die Regionalschule Sanitz in Mecklenburg letztlich nie verlassen, wo Kinder enthusiastisch dem Nachbarn mit dem Zirkel ins Knie stechen, aber der Unterricht oft eine Farce ist.

Mein Boss sagte, man müsse hier in China gegen Vieles ankämpfen, und das versuche ich weiterhin. Er sagt: “Mit Diktatur können die hier wenigstens umgehen, nicht mit Demokratie. Es hilft nichts zu sagen: Englisch könnte für euch wichtig sein“. Vielleicht hat er sehr Recht.

Carsten Schmidt, Freund aus Rostocker Uni-Tagen, berichtet in dieser Rubrik über seine Erlebnisse in Shanghai, wo er nun als Deutsch- und Englischlehrer arbeitet. Die Texte erscheinen auch bei miescha.de.