Zeitrechnung

Das zwanzigste Jahr nach der Wende ist mein zehntes Jahr im Osten des wiedervereinigten Deutschlands. Ich kann wirklich sagen, dass ich als gelernter Wessi seit langer Zeit hier gut zurechtkomme, man hat mich wohlwollend aufgenommen und man bekommt von hier aus einen interessanten, hilfreichen Blickwinkel auf den Alltag und den Rest der Republik – es gibt da allerdings etwas, an das ich mich nicht gewöhnen kann. Es geht um Uhrzeiten. Die Tatsache, dass es 13:15 Uhr ist, nehme ich klaglos hin, dass man hierzulande allerdings “viertel Zwei” sagt, wenn man “Viertel nach Eins” meint, macht mich fertig. Denn “Viertel Zwei” ist ja nicht “Viertel vor Zwei”, letzteres ist nach ostdeutscher Logik vielmehr “Dreiviertel Zwei”. Ganz im Ernst: Hier gehen die Uhren anders.

Man hat schon mehrfach versucht, mir das auf liebevolle, manchmal auch ungeduldige Weise zu erklären: So wie 13:30 Uhr eben halb Zwei ist, also 50 Prozent von zwei Uhr, ist 13:15 Uhr eben ein Viertel zwei – also 25 Prozent der zweiten Stunde am Nachmittag sind dann schon vergangen. Ich nehme diese Erläuterungen so hin und habe inzwischen auch verstanden, wie die Zeitrechnung hier funktioniert. Sogar in einigen südwestdeutschen Landstrichen wird das Uhrablesen nach dieser Methode praktiziert. Aber auch auf die Gefahr hin, hier im Nordosten als chronometrischer Legastheniker und gleichzeitig zeitloser Besserwessi zu gelten, fragte ich neulich, was denn mit 13:10 Uhr sei, also zehn nach Eins: “Ist das dann ein Sechstel Zwei?” Misstrauische Blicke. “Und 13:20 wäre dann… zwei Sechstel, nein, halt: ein Drittel Zwei. Stimmts?” Mitleidige Blicke gegenüber. “Und 13:48… das wäre demnach dann vier Fünftel Zwei, ja?”

Also, das sei ja nun ausgemachter Blödsinn. Wer sich denn so etwas Unpraktisches ausdenken würde… so etwas Seltsames habe man ja noch nie … also, da könne ja jeder …  wer solle da denn noch … also weißte, also nee! Die Debatte brandete auf. Ich musste die Runde leider verlassen. Um Voll Zwei hatte ich bereits den nächsten Termin.