Das Auge liest mit

Leipzig. Buchmesse. Man braucht zum Auftakt immer eine Art Wiedereingliederungsphase. Wenn einen der Besucherstrom in die Hallen mitspült und dann gewissermaßen mitten im Getümmel ausspuckt, dann braucht man ein paar Minuten, um sich an diesen wogenden Wahnsinn zu gewöhnen.

Wie eine Sturmflut umspülen die Besucher die Buden, schwappen in den hintersten Winkel der Auslage. Die Flut beginnt um 10 und endet um 17 Uhr. Ebbe ist nur in der letzten Stunde. Wo ein bekannter Name angekündigt wird, entsteht eine Springflut.

Man versucht zu überleben, bemüht sich, aufs Wesentliche zu achten, aber das fällt nicht immer leicht. Da sind immer wieder die dicken Manga-Mädchen, an denen man sich vorbeizwängt. Detailliert kostümiert wandern sie zur Halle mit dem Comic-Buch-Fan-Treffen. Oder diese Herren. Herren mit wallender, wirrer grauer Mähne, in Tweed-Jackets, die es als ihre Verpflichtung verstehen, stets über den Rand ihrer Brille hinweg die Messemassen zu mustern. So schreiten sie mit gesenktem Kopf und weit aufgerissenen Augen durch die Gänge.

Ausklappbare Buchseite mit gezeichnetem Storch.
Klappen gehört zum Handwerk.

Irgendwann beachtet man sie nicht mehr – und dann liegt plötzlich die Schönheit des gedruckten Wortes vor einem. Als Pfeilstorch. „Ich werde über diese Merkwürdigkeit noch etwas drucken lassen“. Ein Buch über Tiermeldungen aus zwei Jahrtausenden. Titelheld ist dann auch noch der Rostocker Pfeilstorch, der einst als Beweis für den Vogelzug diente, weil der Vogel mit einem Geschoss afrikanischen Ursprungs im Halse bis in unsere Breiten flog. Das berühmte Tier verwahrt heute die Uni Rostock – und die Geschichte mit Zeichnung zum Ausklappen ist nun Teil des „Merkwürdigkeiten“-Buches vom Verlag Kunstanstifter (Kunstanstifter, Halle 5 F213).

Oder „Der Atlas der verschwundenen Länder“ – Björn Berge erzählt anhand seiner Briefmarkensammlung Geschichten von Ländern, die es unter diesem Namen längst nicht mehr gibt (dtv, Halle 4 A201/B200).

Manchmal reicht auch ein Kartenspiel. „Monster!“, ein literarisches Trumpfkartenspiel. 30 Ungeheuer und Monstrositäten aus 300 Jahren Weltliteratur treten gegeneinander an. Die Kategorien: Alter, Gerissenheit, Brutalität. Der Leviathan trifft auf den Hund von Baskerville und den Prager Golem (Homunculus-Verlag Erlangen, Halle 5 F119).

Brutalität ist Trumpf.

Und dann gibt es noch die Stiftung Buchkunst – sie zeichnet Bücher aus, bei denen nicht zwangsläufig der Inhalt, wohl aber die Aufmachung besonders lobenswert sind. Wer will es bezweifeln: Das Auge liest mit. An ihrem Stand wird deutlich, was gestalterisch weltweit möglich ist. Hier wird sogar das am besten aufgemachte Buch prämiert. Die Wettbewerbsexemplare liegen zur Ansicht aus. Randnotiz: Ausgerechnet beim Buch über das Falten, Falzen, Knicken und Binden hat die Bindung nachgegeben. (Stiftung Buchkunst, Halle 3 D500).

Bindungslücke – ausgerechnet beim Buch…

… übers Heften und Binden.

Die schönen Seiten der Buchmesse

Hintergrundinfos

Thilo Sarrazin scheint mir ein seltsamer Mensch zu sein. Er wirkt auf mich verwirrt, wenn er von speziellen Genen spricht, die einige angeblich haben und andere wiederum nicht oder über Kopftuchmädchen und doofe Einwanderer… also, nee. Das wirkt schon auf den ersten Blick oberflächlich, populistisch und überhaupt: nicht weit genug gedacht. Es klingt nach Stammtisch – unheimlich und gefährlich. Und dann gestern auch noch diese Pressekonferenz, die der private Nachrichtensender N24 sogar live übertragen haben soll. Sarrazin wundert sich im Blitzlichtgewitter, dass es schon so viel Aufregung um sein Buch gibt, wo er es doch gerade erst der Öffentlichkeit vorstellt. Hat niemand Thilo Sarrazin gesagt, dass a) Verlage üblicherweise Ansichtsexemplare an Buchhändler und Rezensionsexemplare an Journalisten verschicken (und zwar Wochen vor dem Veröffentlichungstermin) und vor allem b) dass Spiegel-online und Bild.de Auszüge aus Sarrazins Werk vorab veröffentlicht haben?

Zurück zu den seltsamen Behauptungen, mit denen der Bundesbankvorstand ja auch in zahlreichen Interviews nicht zurückhaltend war: Auf tagesschau.de gibt es einen Faktencheck zu Sarrazins Thesen. Das Ergebnis überrascht den gesunden Menschenverstand jedenfalls in keiner Weise.

Jetzt aber!

Der März im Zeitraffer: Landesfunkhaus – Buchmesse – Kurzmeldungen

Neuer Job, neuer Tagesablauf – Seit Anfang März arbeite ich nun also im NDR-Landesfunkhaus in Schwerin für die Magazinredaktion, was auch die Besucher dieser Internetseite zu spüren bekommen: Ich habe derzeit kaum noch Muße, hier großartig zu posten.

Shaolin folgt Katze
In den Messehallen und im Congresszentrum sah man auch Shaolin-Kämpfer und Katzen Rolltreppe fahren ... (alle Fotos: Christian Kohlhof)

Das liegt vor allem daran, dass ich in Schwerin viele neue Dinge lernen muss: Da geht es um Klangelemente und wie und wann man sie einsetzen kann. Es geht um zusätzliche Software und wie man sie effektiv nutzen kann und es geht um viele Debatten mit Kollegen, wie man Themen im Radio umsetzen kann. Dazu kommen dann noch die Fahrten von und zur Arbeit. Während ich in der Redaktion allmählich die wesentlichen Dinge beherrsche, werde ich mich an das tägliche Hin- und Herfahren ziwschen Rostock und Schwerin so schnell nicht gewöhnen. Gut, dass ich ab April ein Zimmer in Schwerin haben werde. Wenn also der Weg in den Feierabend im kommenden Monat nicht mehr fast eineinhalb Stunden, sondern nur noch 15 Minuten dauern wird, erhöht sich hier hoffentlich auch wieder die Zahl der Beiträge. Hier kann ich jetzt nur einige Dinge zusammenfassend nachreichen – und eine Fotoreportage von der Buchmesse in Leipzig bieten. „Jetzt aber!“ weiterlesen

Buch-Haltung

buchhandlung_backstage
Hinter den Kulissen, also Buchhandlung Backstage: Zu hohen Stapeln aufgetürmt liegen hunderte Taschenbücher zum Abtransport bereit. Da hat ein Kunde gleich eine ganze Bibliothek bestellt, wie es scheint. Ein Anblick, der für Buchhändler nahezu alltäglich ist. Im Verwaltungstrakt geht es eben nicht darum, die Werke in Holzregalen Deckel an Deckel senkrecht zu präsentieren... da müssen Aufträge abgearbeitet werden. Foto: Christian Kohlhof

Gebundene Ausgabe

Ein paar Ecken weiter wird ja professionell über Buchläden und deren zuweilen seltsame Kunden gebloggt. Aber auch ich kenne eine Buchhändlerin ja, hüstel, recht gut. Und eben jene berichtete mir vorhin von einem ganz besonders qualifizierten Kunden, der einen Rabatt rausschlagen wollte. Hat aber nicht geklappt.

Kunde: “Dieses Buch hier von Scholl-Latour, das ist ja schon aus dem letzten Jahrhundert.” (erwartungsvoller Blick)

Buchhändlerin meines besonderen Vertrauens: “Ja, das ist richtig. Der Titel ist 1998 erschienen.”

Kunde: “Und, kann man da nichts machen. Zusammen mit dem anderen hier 20 Euro?”

BmbV: “Das hat doch mit dem Buch nichts zu tun. Wenn sie Dostojewski kaufen, dann ist das schließlich noch viel älter.” (Natürlich durfte auch ein Hinweis auf die Buchpreisbindung nicht fehlen)

(Rüdiger-Hoffmann-Modus AN)

Er hat das dann auch gleich eingesehen…

(Rüdiger-Hoffmann-Modus AUS)

… und hat das Buch gekauft. Zum vollen Preis. Ist ja schließlich ne (preis-)gebundene Ausgabe.

Jim und Lukas

Es ist für Radioleute grundsätzlich ungewöhnlich, wenn man sein Publikum sieht, während man was erzählt und/oder vorliest. Auch wenn das Publikum in jeder Hinsicht klein ist. Gestern war Vorlesetag, initiiert von der Stiftung Lesen und der “Zeit“. Überall haben Erwachsene eine Stunde lang in Kitas und und Grundschulen vorgelesen – um die Lust am Lesen und Vorlesen zu wecken.

Ich habe gestern Morgen in der “Schmetterlingsklasse” der Werner-Lindemann-Grundschule in Rostock gesessen und aus “Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer” vorgelesen. In dieser Schule ist jede Klasse Pate für ein Tier, die 3a ist für Schmetterlinge zuständig (Das finde ich ja nicht schlecht).

45 Minten lang habe ich vorlegesen, wie Jim und Lukas mit Emma Herrn Ping Pong, Herrn Tur Tur und Nepomuk kennenlernen. Außerdem haben wir gemeinsam gerätselt, was es in Mandala (in früheren Ausgaben ist das China) für seltsame Schreibweisen gibt: Nämlich nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten. Fas-zi-nie-rend!

Jim Knopfs Abenteuern habe ich früher schon immer gebannt gelauscht. Deshalb musste es auch unbedingt dieses Buch sein.

21 Kinder hörten aufmerksam zu – zum Schluss gabs Applaus – auch das hört man als Radiomann ja eher selten. Aber ich hatte auch offene Ohren. In dieser Grundschule spielt Vorlesen eine besondere Rolle. Bereits ab der 2. Klasse stehen Buchvorstellungen der Kinder auf dem Stundenplan.

Die Aktion in der Lindemann-Schule war eine Idee des Kollegen Carsten Klehn, er hatte 10 weitere Kollegen des Ostseestudios zum Vorlesen in allen Klassen der Schule aufgerufen. Also, ich mache das nächstes Jahr wieder.